Sonntag, 13. September 2015

Ein paar harte Gedanken zur Flüchtlingskrise



Der Anwalt ist beauftragt, der Verhandlungsbeschluss nach wie vor abzuwarten, um Beschwerde gegen die zu erwartende Nichtzulassung zur Berufung einzulegen. Ich muss aber zugeben, dass mir unter dem Eindruck der Füchtlingskrise inzwischen arge Zweifel gekommen sind, ob der Rechtsweg wirklich Sinn macht. Denn der Rundfunkbeitrag ist – wie ich schon verschiedentlich beschrieben hatte – ein vergleichsweise harmloser Beleg für eine viel tiefgreifendere und schwerwiegendere Entwicklung in der deutschen Politik: die Wandlung vom Mehrheits- zum Obrigkeitsstaat. War der Rundfunkbeitrag bereits ein Beispiel dafür, wie Politik die Diskussion über einen alle Bürger betreffenden Gegenstand einfach aussetzt, um Interessen ihrer eigenen verwobenen Strukturen zu wahren, so ist die Flüchtlingsdebatte ein Beispiel für das, was darauf folgt: ein Rechtverständnis à la Hegel. Stufe 1: Der Staat schafft sich Gesetze, das Volk befolgt sie, und darin besteht seine Freiheit. Stufe 2: Der Staat bricht Gesetze, die er selbst geschaffen hat, unter Hinweis auf übergesetzliche Pflichten. Das Volk hat dieser Weisung kollektiv Folge zu leisten und tut dies auch mit überbordenem Eifer – weil dies nämlich davor bewahrt, darüber nachzudenken, dass dem eigenen Handeln die rechtliche Grundlage entzogen worden ist. Stufe 3: Der Staat bestärkt das Volk im Nichtnachdenken, indem er Kritik an und Widerstand gegen sich aussetzt und bestraft. Genau dort befinden wir uns. Als Beispiel mag die Grünen-Fraktionschefin Eckhardt-Göring dienen, die auf ihrer Facebook-Seite übelst beschimpft worden war, nachdem sie im Bundestag den Einwohnern der ostdeutschen Länder ein kollektives Demokratiedefizit unterstellt hatte. Das nahm sie zunächst zum Anlass, Facebook dazu aufzufordern, Kommentare besser zu zensieren, denn ihr Wohlempfinden hat gegenüber der Meinungsfreiheit der Milliarde Nutzer des weltweit größten sozialen Netzwerks Vorrang. Und der Wunsch, andere zu beleidigen, ist natürlich nicht mit dem Zugeständnis verbunden, sich von diesen beleidigen zu lassen. Inzwischen hat sie es sich dank einer Welle echter oder gefakter Sympathiebekundungen anders überlegt.  Das ist das Demokratieverständnis nicht direkt gewählter Volksvertreterinnen – der Staat bin ich, wer nicht meiner Meinung ist, ist hasszerfressen, vielen Dank an all die Aufrechten im Geiste, die mir nach dem Mund reden, alle anderen haltet gefälligst das Maul. Im Vergleich zu diesem neo-aristokratischen Dünkel ist die materielle Enteignung und geistige Bevormundung durch den Rundfunkbeitrag eine Lappalie.


Ethisch ist nichts gegen die 180-Grad-Wende zu sagen, die die Bundesregierung nunmehr in der Flüchtlingspolitik vollzogen hat – die Situation in der Levante ist ja tatsächlich die elementarste politische Krise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Der Anspruch auf Asyl der schutzsuchenden Zivilbevölkerung ist legitim. Die Not, der sie zu entrinnen sucht, ist echt. Aber die Bedenken gegen eine bedingungslose Aufnahme aller Flüchtlinge sind ebenfalls real und nachvollziehbar. Egal, was Frau Merkel sagt – es ist weder rechtlich noch praktisch möglich, nichtsyrische Asylbewerber sofort wieder abzuschieben, weil Syrien eben nicht das einzige Land auf der Welt ist, wo Menschen permanent in ihrer Existenz bedroht sind. Man kann auch nicht schwupps die EU-Asylpolitik vereinheitlichen und etwa Kosovo als sicheren Drittstaat erklären, wenn die EU-Menschenrechtskommission belegt hat, dass die dortigen Ashkali und Romagruppen von der albanischen Mehrheit zwangsenteignet worden sind. Man kann auch nicht alle Nordafrikaner abschieben, wenn etwa unter dem neuen ägyptischen Regime mehr Studenten verschwinden als je zuvor und Homosexuelle im Staatsfernsehen geoutet und verhaftet werden, um so zu tun, als halte man muslimische Werte hoch. Man kann noch nicht einmal alle offiziellen Syrer ohne Überprüfung aufnehmen, wenn bekannt ist, dass ihnen wegen ihrer Sonderbehandlung die Pässe geklaut werden – dies hat zudem das Risiko für Syrer erhöht, von anderen Flüchtlingen für ihre Identität ermordet zu werden. Was man tun könnte, ist Aufnahmelager in Zypern, Griechenland und Italien massiv ausbauen. Oder Flüchtlinge direkt aus Syrien abholen, indem die UN eine Nichtfluggrenze an der türkischen Grenze beschließt. Oder Öl aus Saudi-Arabien boykottieren, da das Land sich weigert, Flüchtlinge aus dem Land aufzunehmen, das es mit der Finanzierung radikalislamischer Gruppen selbst zerstört hat. Über all dies wird in deutschen Medien so gut wie gar nicht geredet, geschweige denn mit den Flüchtlingen selbst. Stattdessen geht es immer nur darum, wie sie versorgt werden und was dies über die Deutschen aussagt. Also um eine so noch nie da gewesene Selbstbeweihräucherungsorgie, während der alle vorhersehbar ernsten Konsequenzen komplett ausgeblendet werden.

Der wohl wichtigste Punkt darunter ist, dass ca. 65-70% der Füchtlinge junge Männer ohne Familienanhang sind, was bedeutet, dass dieser entweder aus Flüchtlingslagern anderswo folgen wird oder dass sie nicht aus Syrien, sondern Nordafrika oder den Balkanländern stammen. Folgen die Familien nach, wird die Flüchtlingsanzahl unter der Annahme von durchschnittlich drei Angehörigen und einer diesjährigen Flüchtlingszahl von 1 Million – ungeachtet der erwarteten jährlichen Neuzugänge von einer halben Million – um 1,8-2,1 Millionen steigen. Das bedeutet, dass die syrische Bevölkerung Deutschlands rein rechnerisch bis 2018 so groß sein wird wie die türkische Minderheit – und wenn dies auch finanzierbar sein mag, logistisch, sozial und politisch ist dies nicht nur unverantwortbar, sondern wird zu Verwerfungen führen, die nicht wieder rückgängig gemacht werden können. So stellt sich die Frage, wie der Staat die ohnehin nicht leichte Position muslimischer Frauen wird schützen können, wenn durch das geschlechtliche Ungleichgewicht ein “sachlicher” Grund entsteht, Frauen “zu ihrer eigenen Sicherheit” ins Haus zu verbannen. Hinzu kommt noch, dass Salafisten bereits unter den Flüchtlingen auf Seelenfang gehen. Das erhöht das Risiko einer Fundamentalisierung des Islams in Deutschland, weshalb gerade im Interesse der integrierten Muslime sehr viel entschiedener gegen Salafismus vorgegangen werden müsste als bisher. Hierzu ist von Merkel & Co nichts zu hören.


Wer zur Zeit solche Überlegungen öffentlich äußert, muss sich laut meinem Freundeskreis in Deutschland auf emotional geladenen Widerspruch und den Vorwurf gefasst machen, man sympathisiere mit Nazis. Das könnte ich für meine Person relativ leicht entkräften, da ich selbst als minderjähriger Flüchtling vor über 30 Jahren nach Deutschland kam. Aber gerade weil ich selbst Migrationserfahrung habe, kann ich den derzeitigen kollektiven Wohltätigkeitsrausch nur skeptisch sehen. Als Rumäniendeutscher unterlag ich keiner Sprachbarriere, hatte aber nichtsdestotrotz enorme Anpassungsschwierigkeiten wegen der völlig unterschiedlichen Gesellschaftssysteme. Wie heute wurde man als “Zonenflüchtling” zuerst jovial willkommen geheißen, mit einigen wirklich sinnvollen Starthilfen, aber eben auch symbolischen Gesten zur Bestätigung der eigenen Vorurteile. Der Flüchtling ist immer auch Symbol der eigenen “Überlegenheit” . Wie vereinzelte türkischstämmige Kommentatoren dieser Tage kann ich daher in der Hilfsbereitschaft der Deutschen durchaus einen Hang zur Selbstdarstellung lesen. Dies umso mehr, als in den Medien jeglicher Versuch unterbleibt, das Land Syrien der Öffentlichkeit zu erklären. Obwohl die Ansiedlung einer komplett neuen Minderheit dringend der Erklärung ihres kulturellen Hintergrunds bedarf, finde ich in allen deutschen Medien nur das immer gleiche Starren auf den eigenen Bauchnabel, wobei man klar sagen muss, dass die öffentlich-rechtlichen weder besser noch schlechter berichten. Dieses Desinteresse ist kein Ausdruck eines politischen Willens, Staatsbürger dumm zu halten und zu entrechten, sondern Ausdruck einer kollektiven deutschen Wahrnehmungsunfähigkeit.

Wissen die Leser dieser Zeilen beispielsweise, dass der Konflikt in Syrien auf französische Kolonialpolitik zurückgeht? Dass sunnitische Araber im 1. Weltkrieg gegen das Versprechen eines eigenen Staates an Seiten Frankreichs und Großbritannien gegen die Türken kämpften? Dass Syrien damals eine Provinz des osmanischen Reichs war? Dass Briten und Franzosen im sogenannten Sykes-Picot-Abkommen 1916 die Region des Öls wegen unter sich aufteilten? Dass die Araber sich gegen diesen Verrat mit einem Aufstand wehrten? Dass Frankreich die an der Küste beheimateten schiitischen Alawiten in Syrien systematisch zur Herrschaftselite aufbauten, um die Sunniten zu kontrollieren? Dass dieser Herrschaftselite fast das gesamte syrische Militär entstammt, inklusive dem Assad-Clan? Dass es demzufolge illusorisch ist zu glauben, mit der Beseitigung der Assads sei der Krieg vorbei? Dass die Franzosen den Libanon aus Syrien herausschnitten, um einen Staat mit einer christlichen Oberherrschaft zu schaffen? Dass in die Verfassung dieses Staates ein religiöser “Verteilerschlüssel” verankert wurde, was durch Veränderung der Bevölkerungsanteile zum libanesischen Bürgerkrieg 1974-1991 führte? Dass der syrische Bürgerkrieg dem folgend bis 2026 oder länger dauern könnte? Dass Syrien laut Menschenrechtsorganisationen in Hunderte von Herrschaftsbereichen teils koalierender, teils verfeindeter Milizen zerfallen ist und die in Deutschland spendensammelnde Exilregierung insofern völlig machtlos ist? Dass diese Milizen (inklusive dem IS) ursprünglich von Saudi-Arabien und Katar finanziert wurden, weil man dort der Meinung war, ziviler Widerstand hätte gegen Assads Armee keine Chance? Dass die Mehrheit der Kombattanten in Syrien dementsprechend keine Syrer sind, was die Brutalität gegen die Zivilbevölkerung erklärt? Dass Saudi-Arabien nichtsdestotrotz die Aufnahme von Flüchtlingen komplett verweigert? Dass die Bundesregierung darauf nicht mit Sanktionen oder Boykott Saudi-Arabiens reagiert, sondern den Export schwerer Waffen dorthin erlaubt? Dass Saudi-Arabien diese Waffen gegen schiitische Huthi-Milizen im Jemen einsetzt, also einen neuen Religionskrieg angezettelt hat, anstelle den ersten zu lösen? Dass dadurch bereits eine neue Flüchtlingskrise in einem Land mit 27 Millionen Einwohnern im Gang ist? Dass aufgrund all dessen mit den Flüchtlingen auch die religiösen und verwandschaftlichen Konflikte, die Arabien seit Generationen bestimmt haben, mit importiert werden? Dass es angesichts der historischen Veranwortung Frankreichs ein schlechter Scherz ist, wenn dieses Land weniger als 10% der Flüchtlinge aufnimmt, die in Deutschland angesiedelt werden? Wenn Leser dieser Zeilen dies nicht gewusst haben, interessiert es sie überhaupt oder sind sie der Ansicht, dies sei für die Flüchtlingskrise nur von nachrangiger Bedeutung? Sachliches Feedback ist willkommen.

Eine nationale Eigenschaft, die ich so nur in Deutschland erlebt habe: Während die kleinen Entscheidungen und Fakten des Lebens tausenden von Regel unterworfen werden, die die Ausübung selbst winzigster bürokratischer Vorgänge zu einem kafkaesken Alptraum machen können, treffen die Deutschen die großen, unumkehrbaren Entscheidungen des Lebens aus dem Bauch heraus. Würden sie rational nachdenken, wären sie handlungsunfähig. Nur so kann ich mir die allgemeine Besoffenheit erklären, mit der dieses Thema angegangen wird. Gegen dessen Effekte lässt sich zwar ethisch nichts einwenden – außer der Frage, warum dies erst jetzt geschieht und nicht schon seitdem Syrien als Staat de facto zu existieren aufgehört hat (Antwort: Weil dies im Wahljahr 2013 endgültig wurde). Aber für jede Form von Rausch lässt sich ein Kater vorhersagen. Gerade weil die Willkommenskultur nicht auf einem pragmatisch systematischen Umbau der Flüchtlingspolitik beruht, sondern emotionaler Rhetorik und Ad-Hoc-Entscheidungen, wird sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit spektakulär scheitern und Europa dadurch von Grund auf ändern. Aufgrund des deutschen Alleingangs wird Großbritannien höchstwahrscheinlich aus der EU austreten. Das entsprechende Referendum war eine Konzession des britischen Premiers an die rechte Fraktion seiner Partei, um der europakritischen UKIP-Partei – mit großem Erfolg - das Wasser abzugraben. Inzwischen spricht sich eine Mehrheit der Briten für einen Brexit aus und das Referendum wird bis Ende 2017 stattfinden. Die derzeit viel beschimpften osteuropäischen Länder fühlen sich von Merkel verraten und verkauft. Da in Deutschland niemand dafür Verständnis äußert, dass Staaten, deren Souveranität für Jahrzehnte von der Sowjetunion außer Kraft gesetzt worden war, ein höheres Maß an nationalem Schutzbedürfnis haben, werden sie noch weiter nach rechts rücken und miteinander stärker gegen Deutschland koalieren. In Frankreich wird sich bei den nächsten Wahlen mit hoher Wahrscheinlichkeit Marie Le Pen gegen Hollande durchsetzen, der gemäß parteiübergreifender Umfragen als der schlechteste Präsident aller Zeiten gesehen wird. Durch all dies könnte Deutschland bereits 2018 vor den Trümmern der EU stehen und von feindseligen Regierungen umgeben sein, welche die Institutionen der EU dazu nutzen werden, das deutsche Hegemonialstreben zu torpedieren. Dies wird Auswirkungen auf den Außenhandel und damit auf Wohlstand und Zukunftsfähigkeit Deutschlands haben – wobei das unvermeidliche Wiederaufflackern der Eurokrise noch gar nicht berücksichtigt ist.


Daraus folgt für mich, dass mein selbst gewähltes Exil permanent wird. Mein Rechtsstreit gegen den Rundfunkbeitrag folgt drei Überlegungen: 1) Man kann nicht immer nur wegschauen, wenn man den begründeten Eindruck hat, die Politik erodiere Verfassung und Grundrechte, denn dann wacht man eines Tages in einer Diktatur auf. 2) Da ich Medienrecht studiert habe, war mir die Tragweite des Rundfunkbeitrags bewusst, daher sah ich eine ethische Verpflichtung, rechtlich etwas im Namen derjenigen zu unternehmen, die dieses Gesetz als ungerecht erkannt, sich aber wehrlos empfunden hatten. 3) Ich kann nicht ausschließen, dass ich eines Tages doch wieder nach Deutschland zurückkehren möchte. Unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise muss ich zu diesen Punkten nun folgern: 1) Es ist zu spät. Da in entscheidenden Fragen bereits geltendes Recht außer Kraft gesetzt worden ist, ist die Bundesrepublik de facto ein Obrigkeitsstaat. Ein solcher ist nach allen Lehren der Geschichte der sprichwörtliche Krug, der zum Wasser geht, bis er zerbricht. 2) Die sich als machtlos Empfindenden haben weder das politische Selbstwertgefühl noch die Organisationsfähigkeit, konstruktiv auf Veränderung hinzuwirken, und beschränken sich aufs Stänkern – ein Engagement für sie ist sinnlos und wird im derzeitigen Klima als Rechtsradikalismus gewertet, was in Deutschland Sozial(selbst)mord bedeutet. 3) Eine Rückkehr nach Deutschland wird für mich in absehbarer Zukunft weder materiell vorteilhaft noch sozial erstrebenswert sein. In einigen Jahren wird sich in jedem rational erkennbaren Szenario die politische Lage in Europa so radikal verschlechtert haben, dass sehr viel mehr als die zur Zeit 50000 Emigranten Deutschland verlassen werden.

Ich muss also sehr gut überdenken, ob ich meinen Rechtsstreit weiterführen will, denn für mich selbst ist er sinnlos geworden und anderen nutzt er nicht.

Abschließend für diejenigen, die sich von meiner Betrachtung der Deutschen vor den Kopf gestoßen fühlen: 1) Herzlichen Glückwunsch, das unangenehme Gefühl, das Sie haben, geht von Ihrem Gehirn aus, das Ihnen zu verstehen gibt, dass es noch da ist. Wunderbar, machen Sie was draus. 2) Bei aller Kritik bin ich natürlich nicht gegen Flüchtlinge. Das wäre ja noch schöner, da ich selbst mal einer war. Diejenigen, die Flüchtlinge nicht mögen, sollten in der Tat nur mal für 1 Minute versuchen, sich in deren Lage zu versetzen. Mein (Über)leben ist das beste Beispiel: Keine Grenze, keine Lüge, keine Waffe kann einen Menschen aufhalten, der eine Zukunft für sich will. Das muss Deutschland, das muss die Welt akzeptieren, das war schon immer so und wird immer so sein. Migration ist kein Übel, sondern nur ein naiver, selbstüberschätzender, pauschal ablehnender, unorganisierter oder irrationaler Umgang damit.